Tipps zu Aufsätzen 4 9. Jahrgangsstufe 4 Erschließung von literarischen Texten 4 Beispiel

 

  Erschließung von literarischen Texten - Beispiel
   
  Beispiel mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: von der Heyde Hartmut, Aufsatz 9./10. Klasse, Stark Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Freising 1998, Auflage 2008, Seite 38/39 mit dazugehöriger Lösung von Seite 155 - 158.
   
  Aufgabe: Analysiere den Text Augenblicke von Walter Helmut Fritz.
     
    Walter Helmut Fritz: Augenblicke
    1    Kaum stand sie vor dem Spiegel im Bade-     gegenstände fragte sie, ob es in der Nähe
      zimmer, um sich herzurichten, als ihre   50 nicht eine Wohnungsvermittlung gebe
      Mutter aus dem Zimmer nebenan zu ihr     Man bedauerte. Sie fragte in der Apothe-
      hereinkam, unter dem Vorwand, sie wolle     ke, bekam eine ungenaue Auskunft. Viel-
    5 sich nur die Hände waschen.     leicht im nächsten Haus. Dort läutete sie,
         Also doch! Wie immer, wie fast im-     Schilder einer Abendzeitung, einer Reise-
      mer.   55 gesellschaft, einer Kohlenfirma. Sie läute-
         Elsas Mund krampfte sich zusammen.     te umsonst.
      Ihre Finger spannten sich. Ihre Augen        Es war später Nachmittag, Samstag,
    10 wurden schmal. Ruhig bleiben!     zweiundzwanzigster Dezember.
         Sie hatte darauf gewartet, dass ihre     Sie sah in eine Bar hinein. Sie sah den
      Mutter auch dieses Mal hereinkommen   60 Menschen nach, die vorbeigingen. Sie
      würde, voller Behutsamkeit, mit jener     trieb mit. Sie betrachtete Kinoreklamen.
      scheinbaren Zurückhaltung, die durch ihre        Sie ging Stunden umher. Sie würde
    15 Aufdringlichkeit die Nerven freilegt. Sie     erst spät zurückkehren. Ihre Mutter wür-
      hatte - behext, entsetzt, gepeinigt - darauf     de zu Bett gegangen sein. Sie würde ihr
      gewartet, weil sie sich davor fürchtete   65 nicht mehr gute Nacht zu sagen brauchen.
         - Komm, ich mach dir Platz, sagte sie     Sie würde sich, gleich nach Weihnach-
      zu ihrer Mutter und lächelte ihr zu     ten, eine Wohnung nehmen. Sie war
    20    - Nein, bleib nur hier, ich bin gleich so     zwanzig Jahre alt und verdiente. Kein ein-
      weit, antwortete die Mutter und lächelte.     ziges Mal würde sie sich mehr beherr-
         - Aber es ist doch so eng, sagte Elsa,   70 schen können, wenn ihre Mutter zu ihr
      und ging rasch hinaus, über den Flur, in     ins Bad kommen würde, wenn sie sich
      ihr Zimmer. Sie behielt einige Augen-     schminkte. Kein einziges Mal.
    25 blicke länger als nötig die Klinke in der        Ihre Mutter lebte seit dem Tod ihres
      Hand, wie um die Tür mit Gewalt zuzu-     Mannes allein. Oft empfand sie Lange-
      halten. Sie ging auf und ab, von der Tür   75 weile. Sie wollte mit ihrer Tochter spre-
      zum Fenster, vom Fenster zur Tür. Vor-     chen. Weil sich die Gelegenheit selten er-
      sichtig öffnete ihre Mutter. Ich bin schon     gab (Elsa schützte Arbeit vor), suchte sie
    30 fertig, sagte sie.     sie auf dem Flur zu erreichen oder wenn
        Elsa tat, als ob ihr inzwischen etwas     sie im Bad zu tun hatte. Sie liebte Elsa. Sie
      anderes eingefallen wäre, und machte sich   80 verwöhnte sie. Aber sie, Elsa, würde kein
      an ihrem Tisch zu schaffen.     einziges Mal mehr ruhig bleiben können,
         - Du kannst weitermachen, sagte die     wenn sie wieder zu ihr ins Bad käme.
    35 Mutter. - Ja, gleich.        Elsa floh.
         Die Mutter nahm die Verzweiflung        Über der Straße künstliche, blau, rot,
      ihrer Tochter nicht einmal als Ungeduld   85 gelb erleuchtete Sterne. Sie spürte Zunei-
      wahr.     gung zu den vielen Leuten, zwischen de-
         Wenig später allerdings verließ Elsa     nen sie ging.
    40 das Haus, ohne ihrer Mutter adieu zu sa-        Als sie kurz vor Mitternacht zurück-
      gen. Mit der Tram fuhr sie in die Stadt, in     kehrte, war es still in der Wohnung. Sie
      die Gegend der Post. Dort sollte es eine   90 ging in ihr Zimmer, und es blieb still. Sie
      Wohnungsvermittlung geben, hatte sie     dachte daran, dass ihre Mutter alt und oft
      einmal gehört. Sie hätte zu Hause im Tele-     krank war. Sie kauerte sich in ihren Sessel,
    45 fonbuch eine Adresse nachsehen können.     und sie hätte unartikuliert schreien mö-
      Sie hatte nicht daran gedacht, als sie die     en, in die Nacht mit ihrer entsetzlichen
      Treppen hinuntergeeilt war.   95 Gelassenheit.
         In einem Geschäft für Haushaltungs-      
     
    Mögliche Lösung
     
    Der 1929 geborene Schriftsteller Walter Helmut Fritz wurde durch Erzählungen und besonders durch seine Gedichte bekannt. Die 1964 erschienene Kurzgeschichte Augenblicke handelt von einer jungen Frau, die zwar bereits berufstätig ist, aber noch mit ihrer schon alten Mutter in einer Wohnung zusammenlebt. Sie leidet unter der ständigen Nähe, die sich daraus ergibt, und sucht sich aus dieser familiären Enge zu befreien.
    Aufgrund des Schauplatzwechsels lässt sich das Geschehen zunächst grob in drei Teile unterteilen. In den Zeilen 1 bis 38 spielt die Handlung in der Wohnung von Mutter und Tochter, die folgenden Zeilen 39 bis 87 beschreiben Vorgänge und auch Gedanken der Tochter, Elsa, auf ihrem Weg durch die Stadt und in den Zeilen 88 bis 95 kehrt mit Elsa auch die Handlung wieder an den ersten Schauplatz, die Wohnung, zurück.
    Bei genauerer Betrachtung des Handlungsverlaufs ergeben sich zudem mehrere Unterabschnitte:
    Zunächst wird kurz die Ausgangssituation gekennzeichnet: Elsa befindet sich im Badezimmer vor dem Spiegel und ihre Mutter kommt dazu (Z. 1-5). Elsa reagiert darauf gereizt (Z. 6-17). In diesem Unterabschnitt werden Elsas Gedanken und Gefühle wiedergegeben. Daran schließt sich eine Unterhaltung zwischen Mutter und Tochter an, die in deren Zimmer fortgeführt wird und bei Elsa zu zunehmender innerer Anspannung führt (Z. 18-38).
   

Elsas Weg durch die Stadt im zweiten Hauptteil dient zunächst dem Zweck, eine eigene Wohnung zu finden (Z. 39 - 56). Da ihre Bemühungen jedoch ohne konkrete Ergebnisse bleiben, vertieft sich Elsa auf ihrem stundenlangen Weg gedanklich in ihre Auszugspläne (Z. 57 - 72). Im folgenden Unterabschnitt wechselt die Perspektive (Z. 73 - 80). Während bis dahin fast immer aus Elsas Sicht erzählt worden ist, werden nun Gedanken und Gefühle der Mutter mitgeteilt, die deren Verhalten erklären. Danach wird wieder Elsas Sicht aufgegriffen und es werden ihre Gedanken beschrieben, bis sie schließlich wieder die Wohnung erreicht (Z. 80 - 87). Im kurzen Schlussabschnitt (Z. 88 - 95) steht die Darstellung der inneren Verfassung Elsas, die in ihr Zimmer zurückgekehrt ist, im Mittelpunkt.

    Aus verschiedenen Angaben im Text (Z. 39, 57 f., 62, 88) lassen sich Zeitpunkt und Dauer der erzählten Zeit erschließen: Die Handlung setzt etwa am späten Vormittag eines 22. Dezembers mit dem Gespräch im Bad ein und endet nach Elsas Rückkehr, deren Zeitpunkt mit „kurz vor Mitternacht" (Z. 88) ziemlich exakt angegeben ist.
    Als Perspektive, aus der erzählt wird, hat der Autor weitgehend die Sicht Elsas gewählt. Jedoch werden an einigen Stellen auch Gedanken und Gefühle der Mutter mitgeteilt, von denen die Tochter nichts wissen kann. Diese Stellen sind aus der Innenperspektive der Mutter (Z. 73 - 80) beziehungsweise aus der übergeordneten Perspektive eines auktorialen Erzählers (Z. 36 - 38) geschildert. Der Erzähler - und mit ihm der Leser - weiß also mehr über die erzählte Welt als die Hauptfigur.
    Die Erzählung beginnt mit einer sehr kurzen Kennzeichnung des anfänglichen Schauplatzes: „vor dem Spiegel im Badezimmer" (Z. 1 f.); auch Elsas Zimmer wird später nur als Ort genannt und nicht näher beschrieben (Z. 24). Die Hauptfigur wird zunächst nur mit dem Personalpronomen „sie" eingeführt (Z. 1) und erst später (Z. 8) mit ihrem Vornamen bezeichnet. Auch die zweite Figur wird nicht beschrieben, sondern stets nur als „Mutter" benannt (zuerst Z. 3). Daraus kann man schlussfolgern, dass nicht die individuellen Personen für die Erzählung wichtig sind, sondern die Art ihrer Beziehung im Vordergrund steht.
    Das wird dadurch bestätigt, dass gleich von Beginn der Erzählung an eine Spannung zwischen den beiden Personen erkennbar wird; denn mit dem einleitenden „Kaum" wird schon angezeigt, dass sich Elsa durch die gleich darauf hinzukommende Mutter gestört fühlt. Wenn anschließend die Erklärungen der Mutter für ihr Hereinkommen als „Vorwand" (Z. 4) bezeichnet und damit aus der Sicht Elsas als unwahr abgewertet werden, wird das gespannte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter greifbar.
    Elsas Gedanken, die den Vorgang kommentieren (Z. 6 f), zeigen an, dass diese Störung ihres Verhältnisses schon länger vorhanden ist, und die weiteren Beschreibungen ihrer körperlichen Reaktionen (Z. 8-10) machen den Druck deutlich, den Elsa empfindet.
   

Die folgenden Zeilen erläutern das zwischen den beiden entstandene Verhältnis, indem sie Elsas Wahrnehmung der Situation schildern: Sie fühlt sich durch das - wie sie meint - ständige (Z. 12) Hereinkommen der Mutter, die immer mit ihr reden will, bedrängt, sogar „gepeinigt" (Z. 16) und in ihrer Privatsphäre gestört. Die „Behutsamkeit" der Mutter empfindet sie in Wahrheit als „Aufdringlichkeit" (Z. 13, 15).

    Doch teilt sie der Mutter nichts davon mit. Vielmehr spricht sie freundlich und lächelnd zu ihr (Z. 18 f., 22), und da diese auf die gleiche Weise antwortet (Z. 20 f., 29 f., 34 f.), entsteht der äußerliche Eindruck einer scheinbar harmonischen Kommunikation. Nur ein paar Verhaltenssignale weisen darauf hin, dass Elsa in Wirklichkeit kaum imstande ist, die Situation auszuhalten (Z. 23, 27 f., 31 ff.)
    Mit seinem anschließenden Kommentar aus allwissender Perspektive hält der Erzähler die innere Distanz der beiden Personen zueinander fest und hebt hervor, dass die Mutter nicht in der Lage ist, hinter der Fassade der Freundlichkeit im Verhalten ihrer Tochter deren „Verzweiflung" wahrzunehmen (Z. 36-38). Der zweite Hauptteil der Erzählung befasst sich allein mit Elsa. Ihr stundenlanges Umhergehen in der Stadt (Z. 62) und ihre ziemlich planlosen Bemühungen um eine Wohnung spiegeln ihre innere Verfassung wider. Aus einem spontanen Gefühl der Verzweiflung darüber, das Leben bei der Mutter nicht mehr aushalten zu können, hat sie die Wohnung verlassen - ohne zielgerichteten Plan. Dementsprechend wenig durchdacht erscheint ihre Wohnungssuche: Sie hat vergessen, die Adresse einer Vermittlungsagentur mitzunehmen (Z. 44 - 47), sie erkundigt sich in einem Haushaltswarengeschäft und in einer Apotheke (Z. 48 f., 51 f.) und versucht, sich an Schildern zu orientieren (Z. 54 - 56). Wie um die Ziellosigkeit ihrer Bemühungen vollends lächerlich erscheinen zu lassen, wird nun aus Erzählersicht erst das Datum mitgeteilt: Die Erzählung spielt an einem 22. Dezember, also zwei Tage vor Weihnachten. Dieser Tag fällt zudem auf einen Samstag. Es ist bereits später Nachmittag.
    Erfolglosigkeit und Unruhe treiben Elsa stundenlang durch die Stadt. Sie malt sich mit Erleichterung aus, dass sie ihre Mutter nicht mehr zu sehen braucht, wenn sie spät genug heimkommt (Z. 63 - 65). Ihren Misserfolg bei der Wohnungssuche verdrängt sie durch Wunschdenken. In ihren Gedanken ist alles einfach: Sie ist sich sicher, in wenigen Tagen eine Wohnung zu haben (Z. 66f.), sie ist alt genug und selbstständig (Z. 67f.) und sie glaubt, dass sie das Verhalten der Mutter keinesfalls mehr ertragen kann (Z. 68 - 72) - die Wiederholung der Formulierung „kein einziges Mal" (Z. 68 f. und 72) macht das deutlich.
   

Auch in den Zeilen 80 bis 82 wird diese Überzeugung noch einmal fast wörtlich wiederholt, sodass der Eindruck entsteht, Elsa steigere sich in diese Vorstellung hinein. Als Kontrast zu Elsas Wahrnehmung wird an dieser Stelle die Sicht der Mutter mitgeteilt, wodurch die bis dahin weitgehend personale Erzählperspektive ausgeweitet wird. Die Einzelheiten, die hier wiedergegeben werden, verändern die Einschätzung der Situation beträchtlich: Das Verhalten der Mutter wird verständlich durch ihre Einsamkeit und die dadurch hervorgerufene Langeweile (Z. 73 - 75), auch durch ihre Liebe zu Elsa (Z. 79). Vor allem aber wird deutlich, dass Elsa der Mutter sonst kaum Gelegenheit zu einem Gespräch gibt und sich dabei mit ihrer Arbeitsbelastung herausredet (Z. 77). Die Formulierung „Elsa schützte Arbeit vor" betont eben diesen Vorwurf, dass Elsa in diesem Punkt absichtlich übertreibt, um nicht mit der Mutter reden zu müssen.

    In dieser Textpassage, die die Sichtweise der Mutter einnimmt und aus deren Perspektive den Wunsch der alten Frau nach Zuwendung formuliert, scheint Elsas Gewissen zu sprechen: Die Wünsche der Mutter nach Zuwendung sind ihr ja eigentlich bekannt. So ist es eher Elsas Egoismus, der das Verhalten der Mutter als aufdringlich und Elsas Freiheit einschränkend betrachtet.
    Weil sie sich nicht mit dem Konflikt zwischen diesen beiden Sichtweisen auseinander setzen möchte, ,flieht` Elsa (Z. 83); ihr langes ergebnisloses Umherirren in der Stadt macht jedoch deutlich, dass das keine Lösung ist.
    Das Gefühl der „Zuneigung" zu Menschen, das sich allmählich in Elsa einstellt (Z. 85 f.), deutet jedoch eine Veränderung an: Zurückgekehrt in ihr Zimmer denkt Elsa nach. Das Bild ihrer alten und kränklichen Mutter steht ihr vor Augen (Z. 90 - 92). Es fällt ihr schwer, gelassen daran zu denken und nicht verzweifelt aufzuschreien.
    Mit diesem offenen Schluss endet der Text. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, wie sich das Verhältnis der beiden Personen entwickeln wird, ist nicht gegeben. Dennoch wird ein versöhnliches Ende angedeutet. Indem Elsa sich über die Gründe für das Verhalten der Mutter klar wird, entsteht die Chance, Verständnis für sie zu entwickeln und das eigene Gefühl, ständig von ihr bedrängt und eingeengt zu werden, abzumildern.
    Nach dem Kriterium der erzählten Zeit ist der Text von Fritz, der einen verhältnismäßig langen Zeitraum schildert, eigentlich keine Kurzgeschichte. Dennoch weist er mit seinem unmittelbaren Eintritt ins Geschehen und dem offenen Schluss typische Merkmale einer Kurzgeschichte auf. Fritz erzählt die Geschichte einer problembeladenen Beziehung zwischen Mutter und Tochter, in der die Wünsche und Bedürfnisse der Mutter sich so auswirken, dass die Tochter sich bedrängt fühlt und fürchtet, jeglichen Freiraum zu verlieren. Zunächst scheint der Entschluss der Tochter, aus dieser Bindung auszubrechen, ohne Alternative. Am Ende deutet sich jedoch die Möglichkeit an, Verständnis zu entwickeln und die Probleme - auch wenn das im täglichen Leben nicht leicht ist - auszuhalten.